Zwei Nixensagen
Nacherzählt von Bernhard Gremler
1. DIE NIXE UND DIE MÜHLE
Es geschah nicht selten in früherer Zeit, daß die Wassermühlen an den Flußwehren durch gewaltige Hochwasser stark beschädigt, wenn nicht gar zerstört wurden. Ein neues Bauwerk mußte entstehen. Unausrottbar blieb dabei in langen Zeiten der Aberglaube, daß in den Grundpfeiler ein lebendiges Wesen eingemau-
ert werden müsse. Ein Bauopfer also, eine Opfergabe an die Flußgeister zur Bezähmung der Wasserfluten.
Berühmt wurden die vielfach auch in Kirchen eingemauerten Gänse. Florierte das Unternehmen, so wandelten sich die Tiere in der Volksvorstellung. Sie erschienen in goldener Gestalt, oder legten goldene Eier.
Doch nicht nur Tiere wurden geopfert. Daß man nicht davor zurückschreckte, selbst Menschen, Kleinkinder speziell, dem furchtbaren Schicksal des Einmauerns bei lebendigem Leibe auszusetzen, zeigt folgende Geschichte.
Ein Müller am Fluß ließ eine neue Mühle errichten. Der Baumeister entwarf die Anlagen, doch zögerte er mit der Ausführung. Der Müller drängte auf Beginn. Der Baumeister nahm den Müller beiseite: „Es muß etwas Lebendes in die Grundmauern eingeschlossen werden, ein Opfer an die Elemente, an die Wassergeister. Nur so hat alles Bestand". Der Müller schüttelte ungläubig den Kopf, doch der Baumeister entgegnete: „So war es von altersher, und es ist eure Mühle". Dann fügte er geheimnisvoll hinzu: „Das beste Opfer ist ein Mensch, ein Kind. Seht bei armen Leuten nach einem Kind". Der Müller verscheuchte schließlich seine Bedenken. Er fand eine arme Frau, die ihm ihr Neugeborenes gegen hohes Geld verkaufte. Den Säugling, ein Mädchen, ließ der Baumeister in aller Heimlichkeit in den Grundpfeiler des Mühlengebäudes lebendig einmauern.
Viele Jahre danach kam die Mutter des geopferten Kindes wie zufällig an den Fluß. Sie erblickte die neue Mühle im schmucken Glanz der hellstrahlenden Sonne. Neugierig trat sie näher. Kaum aber hatte sie das Ufer erreicht, da schwoll der Fluß zu gewaltiger Flut. Der Strom brandete gegen die Mühle und drohte, sie hinwegzuspülen.
Die Mühle wankte in ihren Grundmauern vor dem Anprall der riesigen Wassermassen. Der Müller stürzte heraus und sah die Frau am Ufer.
„Elende", schrie er sie an, „was willst du hier, da sich die Elemente gegen dich empören!" „Du bist der Elende", entrüstete sich die Frau. „Hast du mein Kind den Fluten geopfert?" Der Müller schüttelte den Kopf. „Dein Kind! Verhökert hast du es wie ein Stück Vieh". Indeß die beiden miteinander haderten, rauschte die Flut noch einmal auf zu gewaltiger Welle. Diese spülte die Grundmauern frei, wo einst das Kindlein eingeschlossen wurde. Da erschien die helle Gestalt einer Nixe in den Wassern. Sie berührte die Mauer, die auseinanderriß. Aus der Höhlung trat eine liebliche Jungfrau. Nackt war das Mädchen und seine rosige Haut schimmerte wie Frühlingsleuchten durch das Chaos der Flut. Prachtvolles Haar, naturgelockt und nie von einer Schere beruht, fiel in langen Flechten vom Haupt herab und umhüllte gänzlich die schlanke Gestalt. Die Nixe schloß die Jungfrau in die Arme und rief zum Ufer hin: „Törichte, grausame Menschen. Seht eure Tochter, die ich vor schmachvollem Tod bewahrt, wie mein Kind war sie bisher, und mein Kind soll sie bleiben für immer". Dann glitten beide Hand in Hand durch die Flut in die Tiefe. Die Welle aber stürzte hernieder und riß die Mühle hinweg. Sekunden nur dauerte das schreckliche Geschehen, dann lag wieder Stille über den Wassern.
Die Frau am Ufer begriff, daß sie ihr Kind zum zweiten Mal verloren hatte. Gram gebeugt ging sie hinweg und suchte Zuflucht bei barmherzigen Schwestern in einem Kloster. Auch der Müller war tief betroffen. Es zog ihn weg vom Fluß, denn er wollte nur noch mit Wind mahlen. Aber die Menschen am Wasser brauchten sein Handwerk. Da blieb der Müller und gelobte vor allen Wassergeistern, nie mehr ein Leben zu opfern und eine neue Mühle nach Recht und Ordnung zu bauen.
2. DIE NIXE UND DER SCHÄFER
Zahlreiche Stellen gab es entlang des Saalelaufes, wo die Weidegründe bis dicht an das Wasser heranreichten.
Auf vielen dieser Weiden trieben einst junge Schäfer ihre Herden durch das Grün. Oft konnten sie ein schönes junges Nixlein, ein Saaleweiblein, in den Fluten bewundern. Was einmal daraus wurde, wollen wir nun erfahren.
Ein junger Schäfer zog einst mit seiner Herde zum Ufer der Saale. Da sah er in den Fluten eine wunderschöne Nixe, die in den Wellen spielte. Der Schäfer entbrannte in sehnsüchtiger Liebe zu der Wasserfrau. Auch sie lockte ihn immer mehr, und als er zu ihr schritt, teilte sich das Wasser vor seinem Fuß wie durch Zauberspruch. Sie umarmten sich innigst, und der Schäfer folgte der Nixe in die Tiefe des Grundes. Sie wohnte in einer geräumigen Halle, wo fast alles so war, wie im Reich der Menschen. Nur die kühle neblige Feuchte und das graue Dämmern des Flußgrundes erlebte der Schäfer mit leichtem Erschauern. Nie schien die Sonne herab in den gräulichen Grund. Nie blühte ein Blümlein auf grünender Aue und keine Frucht reifte goldig an borkigem Geäst.
Anfangs gefiel es dem Schäfer wohl bei der holden Frau, aber zunehmend bedrückte ihn die Sehnsucht nach dem Erleben auf der Erde. Die Nixe spürte sein Verlagen und gab ihm Urlaub: „Wenn du wiederkommst, so mag es denn sein. Doch brichst du dein Wort, so fürchte meine Rache". Der Schäfer versprach das Wiederkommen und verließ das Wasserreich. Da sah er sein Dorf, seine Verwandten, seine Freunde, seine Herde. Auch die Hunde erkannten ihn wieder und sprangen mit freudigem Bellen an ihm hoch. Ihm ward so unendlich wohl in der Seele und er beschloß, auf der Erde zu bleiben. Wohl hütete er sich, dem Saalestrom nahe zu kommen. Auch mied er jedes Bächlein, jeden Brunnen, jede Quelle. So ging die Zeit ins Land, und er schien sicher vor der Rache der Nixe. Doch einmal in Sommerglut plagte ihn der Durst. Eine Lache in einer Bodenmulde bot verlockendes Naß. „Hier kann es nicht schaden. Das flache Pfützchen", so dachte der Schäfer. Doch kaum berührten seine Lippen das Wasser, da fühlte er eine Riesenlast im Genick. Sie drückte sein Gesicht unentrinnbar in das Naß, bis er schmählich darin ertrank. Bevor er starb, ließ sich ein Lachen vernehmen, und er erkannte noch die Stimme seiner Frau aus dem Reich der Nixen. Aber leise klang die Stimme der Nixe, leise und von tiefer Traurigkeit erfüllt.